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Aus der Geschichte Kiel-Gaardens

Das Pogrom

Eine Erinnerung an den 10. November 1938



Ein Ausschnitt von dem Bild an der Wand des Iltisbunkers erinnert an die Reichspogromnacht in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Ein überlebensgroßer SA-Mann schreibt mit einem Pinsel in weißer Schrift das Wort "Jude", ein Davidstern ist zu sehen, während in der unteren Bildhälfte Passanten zerstörte Fensterscheiben betrachten.
(Bild: Shahin Charmi)
Aus dem »Ewigen Kalender für die Jahre 1801 – 2099« ergibt sich, dass der neunte November des Jahres neunzehnhundertachtunddreißig ein Mittwoch war. Obwohl ich an diesem Tag meinen sechsten Geburtstag erlebte, also fünf Jahre alt wurde, habe ich an diesen Tag keine Erinnerung. Gab es eine Geburtstagsfeier, waren andere Kinder oder Verwandte zu Besuch, was habe ich geschenkt bekommen? Auf jede dieser Fragen kann ich heute nur mit weiß ich nicht antworten. Auch wie das Wetter an jenem neunten Novembertag neunzehnhundertachtunddreißig in Kiel bestellt war – war es trocken oder regnete es oder herrschte das für diese Jahreszeit typische Schmuddelwetter – ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. An den nächsten Morgen hingegen, da sollte ich, der Fünfjährige etwas sehen, wenn auch nicht verstehen, was sich bis heute im hohen Alter in mein Gedächtnis eingegraben hat.
Am Vormittag des 10. November machte meine Mutter sich mit mir auf den Weg zu den väterlichen Eltern. Oma und Opa Schulz wohnten wie wir in Gaarden. Bis zu ihrer Wohnung im Sandkrug benötigten wir zu Fuß etwa zehn bis fünfzehn Minuten. Die kurze Straße mit dem eigenwilligen Namen. Sandkrug hatte ihren Namen von „einer früheren Gastwirtschaft in jener Gegend` belehrt mich Hielschers »Kieler Straßenlexikon«. Der Weg dahin führte uns die Iltisstraße hinunter, dann jeweils ein kurzes Stück durch die Helmholtz-, Kaiser- und Medusastraße und schließlich – wenn nicht gerade Wochenmarkt war – quer über den Vinetaplatz in die Elisabethstraße, von der nach 200 Meter der Sandkrug abbiegt. Als wir an diesem November-Donnerstag von der Medusastraße beim Eisenwarengeschäft Hansohm um die Ecke bogen und schräg hinüber zum Platz gingen, sahen wir dort Leute stehen, kleine Gruppen, oft nur zu zweit, oder auch allein. Warum sie dort standen, erschloss sich für uns nicht sogleich. Es war still auf dem Platz, keine Hektik, keine Bewegung. Wir schauten auf die Rücken der Stehenden, denn sie alle sahen in eine Richtung – auf die schiefen Häuser der Elisabethstraße. Warum, weshalb? Wir mussten erst bis in die Mitte des Platzes kommen, dass ich kleiner Mann das eingeschlagene Fenster des dortigen Juweliergeschäfts sah und die zwei Polizisten, die dort herumstanden. Und dann sah ich auch all die goldenen Dinge, die Schmuckstücke und die Uhren, die weit verstreut auf dem Pflaster vor dem Geschäft lagen.
Mutter hatte meine Hand fest im Griff, sie sprach kein Wort. Es war wohl die für einen Fünfjährigen gespenstige, angstverbreitende Atmosphäre, ausgelöst durch die auf das zertrümmerte Geschäft blickenden schweigenden Menschen und das Verhalten der Mutter, dass ich sie nicht fragte, was denn hier los sei. Nach wenigen Minuten drehte Mutter sich um, und ohne noch etwas zu sagen, verließ sie mit mir an der Hand den Vinetaplatz. Wie sollte sie auch, mir, einem Fünfjährigen, um der eigenen Sicherheit willen verständlich machen, was hier in der zurückliegenden Nacht geschehen war.
Soweit meine Erinnerung an jenen Vormittag des 10. November 1938. Dass ich mich, im Gegensatz zu meinem Geburtstag tags zuvor, nach 75 Jahren noch an dieses Erlebnis erinnere, ja, mehr noch, es bildlich vor mir sehe, ist wohl dem Umstand geschuldet, dass dieses für mich Kind unbegreifliche und unerklärte Ereignis einen tiefen emotionalen Eindruck im Gedächtnis hinterlassen hat.
In jener Pogromnacht 1938, so lese ich in Gelebte Zeit. Alltag von Kindern und jungen Erwachsenen in den 20er, 30er und 40er1ohren Erinnerungen und Fotografien aus Kiel-Gaarden wurde nicht nur das Juweliergeschäft des Juden Baumgarten in der Elisabethstraße Nr. 56 am Vinetaplatz von den braunen Horden zerstört. Es traf auch das Geschäft Karlsberg in der Kaiserstraße und die Drogerie Haller-Munk, Stoschstr. Nr 1.
Dr. Edmund Schulz
Leipzig, den 25. Februar 2014

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